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Über Bau und Architektur eines Textes


Die Bauart eines Textes ist durchaus vergleichbar mit der Architektur eines Hauses. Und wie sich im Laufe der Epochen die Stile der Bauten ablösten, haben sich auch bei sprachlichen Konstruktionen wie etwa bei Prosa, Drama oder beim Gedicht die Ausdrucksformen verändert. Über Jahrhunderte gleich geblieben jedoch, ja sogar über die Jahrtausende hinweg unverändert, sind elementare Gesetze, was das Bauen anlangt. So erforderte die Errichtung der Cheops-Pyramide in Gizeh, des Olympia-Stadions in Beijing oder der imposanten Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt die Beachtung gleich bleibender statischer Grundsätze. Desgleichen ist beim Bau eines sprachlichen Gebildes das Befolgen grammatischer Regeln erforderlich, damit eine Formulierung nicht windschief im textlichen Zusammenhang baumelt, sondern sich organisch in ein kohärentes Ganzes einfügt.

Ein rundweg gelungener Text bedingt planvolles Vorgehen, was übrigens im Baufach eine Selbstverständlichkeit ist. Beim Verfassen einer Schreibe, davon sind zwar flüchtig dahin geschriebene Notizen und Merkzettel ausgenommen, hat Heinrich von  Kleists Empfehlung an gewitzte Rhetoriker ?über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ nur bedingt Gültigkeit. Setzt doch mündlicher Sprachgebrauch etwas andersartige Strategien der Vorbereitung und der Präsentation voraus. Das Referat ist an eine Zuhörerschaft gerichtet, deren Aufmerksamkeit es zu erobern gilt mittels direkter Ansprache, auf Grund des klaren, übersichtlichen Aufbaus der Rede sowie dank verständlicher Botschaften – und nicht zuletzt kraft des Begeisterungsvermögens der vortragenden Person.

Anders bei geschriebener Sprache, wie zum Beispiel im Falle eines Briefes, Aufsatzes oder Berichts, befinden sich die Empfänger/innen des Schriftstücks nicht zeitgleich in ein und demselben Raum, und sie können sich deshalb bei Verständnisschwierigkeit, Meinungsverschiedenheit oder bei weiterführendem Informationsbedürfnis auch nicht unmittelbar einschalten und nachfragen. Die Verfasserin bzw. der Verfasser eines niedergeschriebenen Textes muss sich somit im Voraus noch verstärkt ein Bild machen über Interesse, Erfahrungsbereich, Kenntnisstand, Lesegewohnheit usw. der Person, an die sie bzw. er sich schriftlich wenden wird. Es gilt somit, beim Schreiben einen imaginären Adressaten bzw. eine Adressatin anwesend zu wähnen, um quasi dialogisch die Zeilen an solche Person zu richten. Nicht um die behelfsmäßige Errichtung eines Gartenzauns, einmal ganz bildlich gesprochen, geht es beim Aufschreiben einer Erzählung oder einer Reportage, sondern um bedachtes, planmäßiges Vorgehen, damit der Konstruktion mittels eines tragfähigen Fundaments sowie der Beachtung der Statik-Gesetze Beständigkeit zuteil wird, ferner Formen und Baumaterialien zusammenfinden in eine harmonische Gesamtheit und schließlich das Werk im größeren Zusammenhang seine ureigene Bedeutung gewinnt.

Die Planung des Schreibens ist ein dynamischer Prozess, der sich erstreckt über den mehrstufigen Schreibvorgang, d. h. von der Ideenfindung bis zum fertigen Text. Somit wird eine Autorin bzw. ein Autor sich nicht starr an einen im Vornherein vorgefertigten Schreibplan halten. Es gilt das Prinzip der rollenden Planung: Im Verlauf der Textproduktion können also zusätzliche Gedanken, etwa bezüglich Aktualitäts-bezogener Tatsachen, einfließen, worüber in Ergänzung zur anfänglichen Textdisposition außerdem zu berichten ist. Es ist zumindest bei größeren Schreibvorhaben ratsam, dass die Überlegungen betreffend Schreibplanung bzw. die Organisation des Schreibens schriftlich festgehalten und diesbezügliche Ergänzungen und Überarbeitungen stets protokolliert werden, so dass in jeder Phase des Produktionsprozesses vom im Entstehen begriffenen Text zurück auf den Plan geschlossen werden kann.

Nichts ist beim Schreiben entmutigender als der überquellende Spott eines blanken Blatt Papiers, bzw. die unbeschriebene Ebene der geöffneten Word-Datei auf dem Bildschirm. Seit Einführung der elektronischen Textverarbeitung mit der effizienten Lösch-Taste sollte eigentlich der Tatbestand der Schreibhemmung zusammen mit dem klecksenden Füllfederhalter der Vergangenheit anempfohlen werden. Mit der Gewissheit der komfortablen Korrekturen dank Textverarbeitungsprogramm fällt doch das Niederschreiben leicht, selbstverständlich erst nachdem Ideen gesammelt, diese geordnet notiert worden sind als Gedankenstütze dafür, was in der ersten Fassung des Texts aufgezeichnet werden soll. Während des Schreibens gilt es, stets den Plan vor Augen zu halten, möglicherweise bedarf die anfangs angelegte Disposition einer Ergänzung, was wiederum Anpassungen hervorruft im entstehenden Text.

Bei der Überarbeitung des Textes, bisweilen wird an mehreren Fassungen gefeilt, geht es dann um die Ausmerzung grammatischer Entgleisungen, die Verfeinerung des Textzusammenhangs, die logische Gliederung der Inhalte und Argumente, die Anpassung sprachlicher Ausdrucksformen, stilistische Verbesserungen und weitere Anpassungen zu Gunsten eines in sich abgeschlossenen, konsistenten Textes. Für die definitive Fassung gilt die Achtsamkeit zunächst dem Ausmerzen hartnäckiger Druckfehler und außerdem der äußeren Form des Geschriebenen, d. h. der Textgestaltung. Mit dem Setzen von Titeln und Zwischentiteln, mittels Gliederung in Abschnitte, mit Hilfe von Kursiv- und Sperrdruck kann einem kohärent gebauten Text auf Grund gestalterischer Merkmale zusätzlich verholfen werden zur besseren Verständlichkeit.  

Abschließend soll anhand eines Aphorismus (Gedankensplitter bzw. scharf umrissener Gedanke) nochmals Entstehung und Architektur eines Textes reflektiert werden.

Tapsig der Gedankensplitter, wie dieser
Entwischt der disziplinierten Erwägung!
Dennoch wagt er sich ins Rampenlicht,
Bald entmutigt ob des polternden Spotts,
Bald bestärkt von gutmütigem Applaus.
Er braucht sich seiner nicht zu schämen.

Beim Verfassen dieser prosaischen Kurzform stützte ich mich ab auf den Typus ?Gogyohka“, ein aus der japanischen Tanka-Dichtung abgeleitetes Konzept. Hier geht es darum, in möglichst einfacher, ungebundener Sprache eine tiefe Empfindung oder einen weit reichenden Gedanken in fünf – bzw. ausnahmsweise sechs Zeilen auszudrücken. Indes üblicherweise die fünfte oder gegebenenfalls die sechste Zeile eine Pointe oder Quintessenz enthält. Beim Verfassen eines Gogyohka sind also keine weiteren formalen Vorschriften zu beachten. Den Gefühlen und dem Nachsinnen können somit freien Lauf gewährt werden, ohne dass etwa eine starre Versform den Enthusiasmus dämpft.

Vor dem Aufschreiben dieses Sechszeilers ging die Überlegung voraus, was Thema des Gedankensplitters sein soll. Klar war, dass ich damit eine Verbindung herstellen wollte zu meiner Abhandlung über Bau und Architektur von Texten. Mehr noch, ich wollte meiner Aufforderung zu durchdachtem, planmäßigem Textbau ein leises Augenzwinkern entgegensetzen. Denn: Noch so vielfach bewährte Regeln kennen Ausnahmen, so auch was die Anleitung hinsichtlich eines schlüssig abgefassten, verständlichen Textes angeht. Die Gattung ?Gogyohka“ zeichnet sich im Gegensatz etwa zu einem umfangreichen Projektbericht gerade aus in punkto gebotener Kürze und Spontaneität. Nach der Ideenfindung, ich hatte mir ein Votum vorgenommen zu Gunsten der beherzten, spontanen Verlautbarung sowie über mögliche Reaktionen darauf, machte ich mich ans Verfassen der ersten Version. Dies ganz ohne schriftlichen Plan – also vollends nach Kleists Grundsatz der ?allmähliche(n) Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Immerhin ergab sich ganz von selbst folgender Aufbau: Der Gedankensplitter stiehlt sich tapsig davon, (1. Zeile) ohne sich eingehender Überlegung zu unterziehen. (2. Zeile) Er schämt sich seiner Spontaneität nicht. (3. Zeile) Und er stellt sich freimütig den Reaktionen. (4. + 5. Zeile). Schließlich tritt eine kommentierende Instanz auf mit der Anmerkung, dass sich niemand zu schämen brauche für eine spontane Äußerung. (6. Zeile)

Bei der Überarbeitung unterließ ich Veränderungen in Bezug auf Inhalt und Gedankenfolge. Meine Überlegungen richteten sich allein auf die Form des Gedankensplitters. Hatte ich mir doch inzwischen vorgenommen, die einzelnen Zeilen in etwa auf dieselbe Silbenzahl zurechtzustutzen. Solche Absicht hatte zum einen Konsequenzen bezüglich des Satzbaus der ersten Zeile: ?Tapsig der Gedankensplitter, wie dieser?“ anstelle der üblichen Satzgliedfolge ?Der Gedankensplitter entwischt tapsig der disziplinierten Erwägung“. Die Aufhebung der in der deutschen Sprache gewohnten Subjekt-Prädikat-Objekt-Abfolge verschiebt zugleich den Schwerpunkt der Aussage. Im vorliegenden Gogyohka wird ganz am Anfang mit ?tapsig“, oder sinngleich ungeschickt, unüberlegt, die herausragende Eigenschaft des Akteurs ?Gedankensplitter“, also einer ?personifizierten“ Sache, herausgestrichen, worüber im Folgenden Näheres zu vernehmen ist.

Im Übrigen ersetzte ich bei der definitiven Version Bezeichnungen wie ?Überlegung“ mit ?Erwägung“, ?auf die Bühne“ mit ?ins Rampenlicht“, ?das eine Mal? das andere Mal“ mit ?bald? bald“, ?dröhnenden“ mit ?polternden“, ?wohlwollendem“ mit ?gutmütigem“. Solche Anpassungen zielten einerseits ab auf die Variation der Silbenzahl (bzw. der Zeilenlänge), andererseits glaubte ich mittels Wahl von sinnverwandten Wörtern meine ?Komposition“ ästhetisch zu bereichern, wie zum Beispiel bei: ?polternden Spotts“ (Stabreim)  - oder ?bald? bald“ (Anapher).

Während die Grammatik uns Vorschriften macht in Bezug auf den Rohbau eines Textes, sind unserem stilistischen Empfinden beim weiteren Ausbau wenige Grenzen gesetzt. Allerdings haben sich für verschiedene Textsorten unterschiedliche Sprachregister und Textmerkmale eingebürgert. So finden wir in einem Geschäftsbrief kaum die poetische Sprache eines romantischen Gedichts wieder, und das Vokabular der in der Architektur geläufigen Fachsprache dürfte sich beträchtlich unterscheiden vom plakativen, zugespitzten Stil der Sensationspresse. Allen umfangreichen Schreibvorhaben gemein ist jedoch das Gebot des planvollen, mehrstufigen Vorgehens, sollte ein in sich ruhender, verständlicher Text das Ziel sein.